Tuesday, August 16, 2011

Wenn ich im Dienst bin

von S. I.-Chisti
eine sehr Berliner-Story, und zwar Weddinger

Wenn ich im Dienst bin, die Sachen werden ernst. Ich bin Krankenpfleger, von Beruf und Berufung, aus Überzeugung. Ich pflege. Kranken, eben. Und zwar gerne. Ich arbeite in Berlin, hauptsächlich ambulant - und zu der Zeit dieses Erzählens, im Stadtteil Wedding wo ich auch wohnhaft war, also, wo ich mich auch gut auskannte. Ich war zu dieser Zeit bei einer privaten Firma betätigt, die mich ausschließlich für Dauerspätdienst einsetzen wollte, was mir nichts ausmachte, da ich immer Vorteile gesehen habe im Früh oder im Spät, und abends kann es auch sehr interessant sein, ein bisschen lustig.

Hauptsächlich im Nauenerplatz-Bereich sollte ich mich auf Tour befinden, nicht gerade lustig, das. Andererseits, auch gar nicht so schlimm, es hätte auch Britz sein können oder Lankwitz oder Lichtenrade, wo gar nichts los ist.

Aber zur Fuß, ja, das auch noch – an Autos hatten sie offenbar kaum gedacht, und Fahrräder hatten sie auch nicht zur Verfügung gestellt, ein eigenen hatte ich seit Jahren nicht mehr. Gut, ich komme nämlich aus Colorado, wo wir uns mit Laufen sehr vertraut sind, und im Winter sowieso. Aber das mit dem Auf-den-Bus-Warten, auch dazu – musste das sein? Eben. Aber Dienst ist Dienst, ich machte mich also, auf den Weg. Und zwar gutmütig.

Ambulant heißt, ich trage einen dicken Schlüsselbund, sehe aus wie einen Wärter oder Hausmeister, werde oft gefragt ob ich der bin – Hausmeister, meine ich. So komme ich in jedem Haus und jeder Wohnung rein wo man physisch oder auch psychisch nicht in der Lage ist, mich durch dem Klingeln von unten, rein zu lassen. Da es Winter war, hatte ich eine Jacke mit tiefen Taschen an, darein kam mein Schlüsselring genau richtig. Ich trug weiter einen einfache Heft mit Dienstliches drin und eine Tragetasche, normalerweise einen Stoffeinkaufsbeutel. Das hat gereicht für Heft, Pflegerisches, mal Messgeräte oder sonst was, auch meine dicke Gortex-Handschuhe aus meiner Militärdienst-Zeit. Dienst, Dienst, immer Dienst, Pflicht und Einsatz und Dienst.

Ich war kein Sanitäter bei der Armee damals, ich war im Nachrichtendienst, Abwehr, durch und durch hart trainierte Top-Secret-Analytiker. Und wie passt das zu Krankenpflegen? Gar nicht. Pflege habe ich aber in Amerika Jahrzehnten lang gemacht, das Militär war wie eine Zwischenphase also. Was doch passte, war mein ausgebildete Hard-Assed-Bastard Persona, was mir immer gut gedient hat in solche Ecken wie hier, zum Beispiel am Nauenerplatz im Wedding.

Manche Bekannt/Innen oder Kolleg/Innen fragten mich damals, wie ich mich so traue nachts alleine unterwegs an heruntergekommenen Orten unter Milieutypen, Checkers und Megacheckers, Junkies und Dealers, Alkies, hauptsächlich türkischen oder arabischen Halbstarken. Meine Antwort war immer, dass die es sind, die sich zu trauen haben sollen – wenn ich im Dienst bin. Und zwar gezielt unterwegs, unter verpflichtete – auch mal verfluchte – Zeitdruck. Außerdem war es meine langjährig geübte – und wohl geprüfte und vertraute – Art, die zu ignorieren. Das heißt nicht naiv und unrealistisch unaufpassend, sondern souverän und entschlossen durch den Gegend zu laufen, konzentriert auf meinen Tourenablauf und gleich entspannt selbstbewusst, wachsam, sogar freundlich, ohne jede Aufmerksamkeit an Steinmenschen zu verschwenden. Schritt und Ausstrahlung macht viel aus. Das überzeugt man selbst und all diejenigen in seiner Umgebung zugleich.

Manchmal strahle ich ein bißchen Robert DeNiro aus, manchmal Clint Eastwood, manchmal sogar Jack Nicholson. Niemals, aber niemals, Woody Allen. Das habe ich schon lange, lange hinter mir. Aber immerhin, bin ich schließlich nur ich, und wenn authentisch, reicht es – wenn ich im Dienst bin. Außerdem, es gibt bei weitem viel Schlimmerer, als Nauenerplatz.

Von allen misstrauischen, mal bösartigen Blicke – egal, ob vor dem Kneipentürgang oder von unter dem Kopftuch – von allen Anmachereien, bewusstlosen macho Posieren ungestört, hielte ich mühelos deren Aufmerksamkeitsbedürfnisse oder Ressentiment fern. Mein freie Schritt verbreitete Luft und vermittelte: „'Ey, passt oof, hia läuft een Krank'npfleja im Dienst. Examiniaht un' zwa ambulant eb'n – also macht eusch nösch so wichtich, un' fangt nösch mit mia an so.“

Aber mit Herzen, mit Herzen und Seele. Ich war ansprechbar, nur nicht ablenkbar. Manchmal musste ich unterwegs zu einem Patienten bzw. Klienten auch handeln, einem Auto aus dem vereisten Parkplatz den Schulter zu geben, oder Auskunft an einem Adressesuchenden, oder sogar einen auf der Straße Gestürzten wieder auf den Beinen zu stellen.

Wenn ich im Dienst bin, sind meine Patient/Innen bzw. Klient/Innen keine bloße Einsätze, sondern auch meine Schützlinge. Sie werden versorgt mit Pflege und Unterhaltung, den Medgabe fürsorglich durchgeführt und jede Bedürfnis wahrgenommen und aufgepasst, emotionell wie physisch, wo realistisch und zeitgemäß möglich. Ein extra Butterbrot oder Getränk, sowohl wie Gespräch, sei es um Sozialpolitik oder das Wetter, Familienverhältnisse oder Ärger mit Ärzte, alles lief auf menschlichen Lebens- bzw. Tagesablauf. Die Schlüssel zu deren Häuser, deren Wohnungen, wurden keineswegs verloren noch verbummelt, ganz zu schweigen in irgendwelcher fremden Hände gelandet. Und darin liegt der Kern dieser Episode an diesen winterlichen Abend im Berufsleben eines Krankenpfleger im Dienst. Aber das kommt noch.

Meine Tour verlangte von mir, wie gesagt, nicht nur das hin und her Laufen, sondern auch mit dem öffentlichen Verkehr zu fahren, mich auf verspäteten Busse zu verlassen, nach Gesundbrunnen und zurück nach Nauenerplatz, mit der U9 nach Moabit und zurück nach Leopoldplatz, hin zu trampeln in der Gottschedstrasse wieder, Martin-Opitz-Strasse entlang.


Und gerade da war was passiert, als ich im Dienst war. Ich bekam spät an diesen Abend unerwünschte „Begleitung“ zu einem zuckerkranken einbeinigen Herrn, der hoch sitzend auf sein Bett im Wohnzimmer vorm Fern auf mich wartete. Zu gerade dieser Zeit, gegen 21 Uhr, nicht zu früh, auch nicht später als er es wollte. Er war, mit seiner Mitte-70ern Unzufriedenheit (mit sich selbst, mit seiner Alkoholgeschichte und Scham als ehemaligen HJ um seiner „lebensunwürdigen“ Zustand), immer nicht fertig und oft irritiert, selbstmitleidend, anspruchsvoll. Und mit Windel und Laken durchnässt. Aber was soll's, mein „Schützling“ immerhin.

Schnee und Matsch lag auf den Bürgersteig, ich lief auf der linke Seite in der Martin-Opitz- ab von Schulstrasse, Richtung Gottsched. Da links und hinüber stand seine Haustür. In meine Jackentasche ruhte mein dicke Schlüsselbund. Auf der rechte Straßenseite lief parallel ein junge Typ, vielleicht Ende-20er, früh-30er, ich habe ihn nicht gefragt. Weder Türker noch Araber war er, sondern Deutsche - ob reinstämmig habe ich auch vergessen nachzufragen, ich habe anderes im Kopf, wenn ich im Dienst bin. Meine Instinkte aber sind auch nicht schlecht, manchmal sehr gut. Mein Kopf sagte, „ach wat, dit iss nua deene eenjebildete Paranoia,“ mein Bauchgefühl aber sagte mir, daß ich gleich Besuch bekomme, sogar Begleitung. Ich schenkte ihm keine Aufmerksamkeit, nichts.

Und plötzlich war er trotzdem auf mir zugekommen, querte die Strasse und lief, obwohl so viel Abstand möglich war und normaler wäre, gerade von einem Deutschen zu erwarten, er schritt zwei Meter, ein Meter, ein Halbmeter direkt hinter mir.  Ich bliebe unbekümmert aus Übung und Erfahrung, ruhte in meiner Atmung und in mir vertraut und cool, trotz der wachsenden Spannung. Dann trat er mit seinem Schuhspitze auf meinem Schuhansatz. „Okay, Freundchen,“ dachte ich, „dit wa Provokation, dit kannste einpack'n un' fajessen. So kriegste ooch keene Schisspunkte von mia.“ Ich schritt unaufmerksam ein Stück schneller, nur um ihn von seinem Spaß zu entlassen.

Nur damit er noch Gesicht bewahren konnte, vielleicht nochmal überlegen, ob er wirklich mit mir, wenn ich im Dienst bin, auflegen möchte, ob er sollte auf so ein Risiko sich eingehen lassen. Er war hartnäckig. Schade, ich umso mehr.

Er folgte mich bis zur Haustür, meine Hand blieb tief in meiner rechten Winterjacketasche versteckt, meine Schlüsselbund schützend, ich ließ den Einzelschlüssel zunächst los, mein Hand blieb locker, nicht das ich so blöd die Sache wonach er drängen wollte, leicht in der Hand nehme, damit er freie Lauf im Haus auf meine Kosten und das meines Patienten und all der anderen Mitbewohner gewinnt, gerade mitten im Einsatz. Ganz zu schweigen, was meine Chefin dazu sagen würde.


Und so standen wir beiden still vor der Haustür, im Stillstand, meine Körperhaltung an die Tür gewandt, mein Absicht noch unbedroht mich rein zu lassen, und zwar alleine – ohne Begleitung. Seine Körperhaltung wiederum war an mich gewandt, seitlich, lauernd, bedrohend, seine Augen bohrend, sein Grinsen höhnisch und provozierend. „Machen Sie auf,“ sagte er nur.

Ja, klar, okay, ich mache das, mm-hm. War er nur blöd, oder lebensmüde? Ich ging auf „noch gefährlicher Wolf als du,“ eine von meinem Repertoire von Filmstudierten Mienen, du drehst ganz langsam und voller still-gefährlich andeutende Blick, Kopf klar mit Absicht, auch wenn du noch am Strategieren bist – gerade weil du noch am Strategieren bist – und sagst, mit sehr kontrollierte Dirty Harry-Stimme, deinen Satz, in diesem Dreh hieß es: „Ick bin Krank'npfleja im Eensatz, weeßte, ick hab' hia zu tun. Lass'it jut sein.“ Ich hielte seinen Blick, egal was ich für Optionen sah, und drückte furchtlos seinem Drängen entgegen eine zu allem fähig und zwar bereiten Souveränität aus.

„Machen Sie die Tür auf.“ Ach, wir sind also noch am Siezen, und doch so nah am uns Kennenlernen. „Wohnste hia?“ entgegnete ich, bereit es auf Duzen zu bringen, ohne das ich neue Freundschaften zu schlagen suchte. Ich hatte es eilig, aber gut, alles zu seiner Zeit. „Ja,“ antwortete er, immer mit dieser Haltung und Blick und Grinsen. Und nochmal: „Machen Sie die Tür auf.“ Tja, ich wollte auf Duzen, und wenn er nur wusste, wie nah an seine Ende er kommt, hätte er das Quatsch mit Siezen-beim-Einbruchsversuch bzw. -Körperverletzung fallen lassen. Aber gut, ich bin flexible, das muss man auch wenn im Dienst.

Er hörte nicht auf, drängte weiter, ich zog unauffällig ein paar Gummihandschuhe an, hautdünn und handhabig für alle Fälle. Und gerade als ich überlegte, ob ich die Polizei gleich auf meine Diensthandy anrufe – als würde ich soweit kommen, wenn er das nimmt mit einer Hand und mich niederschlägt mit der anderen – oder doch erst nachdem ich ihn kalt mache und weg schaffe, ja gerade in dem Augenblick machte er seinen Zug. Er wollte den Schlüsselbund, Ende der nette Unterhaltung.

Ich sah nur all den Bewohnern im Haus, die gleich weiter in aller Sicherheit in deren Wohnungen schlafen würden, ich sah meinen Patienten, der noch auf meinen Einsatz wartete und darüber sich noch nicht Sorge machen würde, weil ich so zügig handeln mußte. So ist es manchmal im Dienst. Ich griff den Haustürschlüssel, jetzt vom Schlüsselbund getrennt, spitzenscharf in der geballten rechten Hand, zwischen mittleren und Ringfinger fest nach vorne gestreckt, und bohrte blitzschnell und mit medizinischer Genauigkeit eine Art Tracheastoma in seinem Hals durch. Sauber war der Eindrang, das einmal Drehen, das Rausziehen, nicht so sauber seine Blutung. Er stand für eine Sekunde, weg war sein höhnische Blick, und sackte vor meinen Füße auf den schnee- und matschbedeckten Boden. „Dit wah't,“ war mein Schlusswort, und schaute auf meine Uhr. Noch zeitlich, geht noch. Ich zog die Handschuhe aus, wusch den Schlüssel, machte professionell wie immer meinen Einsatz, kümmerte mich nachdem, um die Leiche draußen. „So jeht dit nösch, wa?“ sagte ich dem Toten bei der Entsorgung, „nösch mit mia, un' zwa nösch wenn ick im Dienst bin.“

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